Nicht verrückt machen lassen!

Von | 27. Dezember 2011

Im nun zu Ende gehenden Jahr 2011 wurde es wieder einmal besonders klar: Auch wenn wir uns noch so modern fühlen, als „Mensch des 21. Jahrhunderts“ meinen, die Toleranz und die Freigeistigkeit für uns gepachtet zu haben, so sind es doch immer wieder uralte Denk- und Handlungsschemata, die bei uns durch kommen. Man muß nur einmal in den Bereich der Sexualität gehen: Zwar haben wir uns an den allgegenwärtigen Anblick „nackter Tatsachen“ gewöhnt, aber wenn ein paar Versicherungsmakler bei einer Brasilienreise auf eigene Kosten einen Bordellbesuch vornehmen, dann müssen sofort „Konsequenzen gezogen“ werden und „Köpfe rollen“. Ein schleswig-holsteinischer Landespolitiker muß zurücktreten, weil er eine Liebesbeziehung mit einer 16-jährigen hatte – am Altersunterschied kann die Empörung nicht liegen, wie die Beispiele Müntefering und Lafontaine beweisen, bei denen extrem jüngere Partnerinnen nie thematisiert wurden. Und das Alter des Mädchens? 16-jährigen will man heute schon gerne Wahlrecht und Führerschein geben, warum traut man ihnen dann nicht auch in romantischen Fragen Entscheidungsfreiheit zu?
Auch die „Hexenjagden“ gegen Karl-Theodor zu Guttenberg und in jüngster Zeit gegen Christian Wulff zeigen, wie leicht es doch auch heute noch ist, Massenmeinungen in kürzester Zeit in gewünschte Richtungen zu lenken und höchste moralische Ansprüche von jedem anderen zu fordern, auch wenn man im eigenen Leben gern mal „Fünfe gerade sein läßt“. Im Grunde haben sich diese Politiker so verhalten, wie sich die überwältigende Mehrheit der Menschen in einer vergleichbaren Situation auch verhalten hätte.
Und die Frage ist doch die: Wollen wir Politiker, die eine so weiße Weste haben, daß man ihnen nicht einmal ein Ticket für Falschparken nachweisen kann, die aber in ihrer politischen Arbeit eine Niete sind? Oder wollen wir fähige Leute aus ihren Ämtern werfen, weil sie sich vielleicht in der Vergangenheit einmal einen kleinen Fehltritt geleistet haben?
Viel interessanter als die Geschichten all dieser „armen Sünder“ ist nämlich die Rolle der Medien in diesem Spiel: Wir sind inzwischen so medienhörig geworden, daß es ein Leichtes geworden ist, aus jedem kleinen Nachrichten-Schneeball eine riesige Lawine erwachsen zu lassen – und dies nicht nur bei Politiker-Affairen, sondern auch bei „großen Themen“ von EHEC über Schweinegrippe bis zum Atomausstieg.
Die Sucht nach höheren Einschaltquoten und Auflagenzahlen sorgt dafür, daß bei vielen Themen die Sachlichkeit verschwindet und in erster Linie die Marktschreierei vorherrscht. Und dabei wird gerne mit verkürzten Schlagworten oder Wortschöpfungen gearbeitet – zum Beispiel der „Rechtsterrorismus“ in Deutschland – Terrorismus hat den Sinn, Angst und Schrecken zu verbreiten, dazu muß aber öffentlich gehandelt werden, beispielsweise über Bekennerbotschaften. Wenn drei durchgeknallte Rassisten ein paar Jahre mordend durch das Land ziehen, ist das ein furchtbares Serienverbrechen, der Begriff „Terrorismus“ wird aber von Medien und Politik nur verwendet, weil er mehr Aufmerksamkeit erzeugt.
Womit wir beim zweiten Nutznießer der Hysterie-Kampagnen angekommen wären: Die Politik. Auch wenn Politiker manchmal selbst Betroffene sind, auf der anderen Seite gibt es immer welche, die dem am Boden liegenden dann erst die richtigen Tritte versetzen, um sich selbst zu profilieren. Auch große politische Entscheidungen können so medial unterstützt werden. Wer ist schon gegen den Atomausstieg, wenn auf allen Programmen der brennende Fukushima-Reaktor zu sehen ist? Wer verzichtet nicht gerne auf ein paar Bürgerrechte, wenn der Terrorismus vor der Tür steht? Oder, auch interessant für 2012: Wer stimmt nicht jeder finanziellen Belastung Deutschlands zu, wenn der Untergang Europas droht?  Fakt ist: Nicht immer hat der die Mehrheit hinter sich, der am lautesten brüllt – das hat uns in diesem Jahr die Stuttgart 21-Volksabstimmung wieder einmal gezeigt.
Deshalb mein Tipp für das nächste Jahr: Lassen Sie sich nicht verrückt machen, versuchen Sie, bei all den „großen Themen“ auch immer mal einen Blick auf die andere Seite werfen, die uns nicht so offensichtlich unter die Nase gerieben wird!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert